„Die Forschungsergebnisse belegen klar: Das gesamte Ökosystem der Oder ist nach der Umweltkatastrophe vom Sommer 2022 nach wie vor stark geschädigt. Mehr als die Hälfte aller Fische fehlt. Es gibt zwar Anzeichen für eine erste Erholung des Fischbestandes, aber jede weitere Belastung der Oder hätte dramatische Folgen, und das für einen sehr langen Zeitraum. Das betrifft letztlich nicht nur die Lebewesen im Fluss, sondern auch die Menschen, die an und mit der Oder leben. Deshalb müssen auf der polnischen Seite sowohl die Salzeinleitungen angepasst als auch der Ausbau der Oder gestoppt werden. Die Wissenschaft zeigt uns auf, dass dies zur Erholung und Renaturierung der Oder unerlässlich ist. Wir sind alle gut beraten, darauf zu hören. Hier brauchen wir auf allen Seiten ein Umdenken, wie wir mit der Oder und Flüssen insgesamt umgehen.“
Bundesumweltministerin Steffi Lemke
Die Zwischenergebnisse des Sonderuntersuchungsprogramms zeichnen ein besorgniserregendes Bild von den Schäden, die das Oder-Ökosystem infolge der Umweltkatastrophe vom Sommer 2022 erlitten hat. Besonders betroffen sind die Fischbestände, die drastisch reduziert wurden. Nach Schätzungen des IGB sind bis zu 1.000 Tonnen Fisch im Fluss verendet. Um zu dokumentieren, wie viele und welche Fische überlebt haben und wie sich die Bestände entwickeln, führt das IGB regelmäßig wissenschaftliche Befischungen durch.
Fischbestände um mehr als die Hälfte reduziert
Die Ergebnisse zeigen erhebliche Einbrüche bei den Beständen und bei der Biomasse verschiedener Fischarten. In der Mittleren Oder sank die Anzahl der Individuen in der Strommitte um durchschnittlich 67 Prozent, im Uferbereich um 64 Prozent. Die Biomasseverluste in diesem Flussabschnitt betrugen 48 Prozent in der Flussmitte und 62 Prozent im Uferbereich. In der Unteren Oder betrugen die Rückgänge 53 Prozent der Individuen und 21 Prozent der Biomasse in der Flussmitte sowie 47 Prozent der Biomasse im Uferbereich. Demgegenüber nahm die Fischdichte im Uferbereich der Unteren Oder sogar um 31 Prozent zu, was durch einen überproportional hohen Jungfischanteil und die stromabwärts gerichtete Abwanderung des Fischbestandes während der Katastrophe erklärt werden kann.
Damit ist die Mittlere Oder deutlich stärker betroffen als die Untere Oder, was wahrscheinlich an der geringeren Wasserführung und dem kleineren Flussquerschnitt liegt. Die Befischungen zeigen auch, dass die in der Flussmitte lebenden Arten dramatischere Einbrüche zu verzeichnen haben als ufergebundene Arten. Die Fischarten Güster, Stromgründling und Ukelei, aber auch Aland, Barbe, Kaulbarsch und Quappe erlitten besonders hohe Verluste (86 bis 100 Prozent).
Muscheln und Schnecken sind durch die Umweltkatastrophe ebenfalls stark dezimiert. Die Auswirkungen des Massensterbens werden noch über Jahre spürbar sein, da vor allem Großmuscheln nur sehr langsam wachsen. Zudem fehlt nun im Ökosystem die Filtrierleistung der Muscheln, die sonst Nährstoffe und auch Algen aus dem Wasser filtern.
Anzeichen für das Erholungspotenzial der Fischbestände
Obwohl diese Ergebnisse alarmierend sind, gibt es auch Anzeichen dafür, dass sich die Fischbestände innerhalb einiger Jahre erholen könnten – vorausgesetzt, die Katastrophe wiederholt sich nicht. Denn trotz der teilweise starken Bestandseinbrüche ist keine Fischart vollständig aus der Oder verschwunden. Auch große Laichfische konnten nachgewiesen werden. Das feuchte Frühjahr hat zudem sehr gute Bedingungen für die Fortpflanzung geschaffen, etwa weil Auenwiesen überflutet wurden und so als wertvolle Laichplätze und Brutaufwuchsgebiete zur Verfügung standen.
Die Jungfische aus dem Frühjahr brauchen nun zwei bis drei Jahre, um heranzuwachsen und sich fortzupflanzen. Erst wenn dies ungestört möglich ist, könnten sich die Bestände tatsächlich erholen. Besorgniserregend ist in diesem Zusammenhang, dass der Bau längerer und höherer Buhnen zugunsten der Schifffahrt die flusstypischen Sohlen- und Uferlebensräume der Oderfische zerstört.
Prymnesium im gesamten untersuchten Flussverlauf nachgewiesen
Auch die Alge Prymnesium parvum ist Gegenstand aktueller Untersuchungen am IGB. Einleitungen salzhaltiger Abwässer in die Oder ermöglichten im Sommer 2022 eine Massenentwicklung dieser Brackwasseralge. Sie kann ein Gift produzieren, das für Fische, Muscheln, Schnecken und andere Algen tödlich ist.
Als Folge der Massenentwicklung hat sich diese Alge inzwischen im gesamten untersuchten Flusslauf etabliert. Das belegen Wasserproben von 20 Untersuchungsstellen, die das IGB monatlich nimmt und molekularbiologisch analysiert. Die Konzentration der Alge ist im Vergleich zum Vorjahr noch gering, nimmt aber aktuell wieder stark zu. Seit März hat sie sich vervielfacht, und das entlang der gesamten Oder auf deutschem Gebiet. Die vom Menschen beeinflussten Umweltbedingungen sind demnach immer noch günstig für die Alge und es besteht daher die latente Gefahr einer erneuten Massenentwicklung.
Die genauen Schwellenwerte und Dynamiken für ein solches Massenwachstum und die Giftbildung sind allerdings noch unzureichend bekannt und werden im Rahmen der laufenden Untersuchungen erforscht. Dabei wird auch das Genom der Alge untersucht, denn dieses ist sehr variabel. Die verschiedenen Genotypen wachsen vermutlich bei unterschiedlichen Umweltbedingungen und bilden unterschiedliche Toxine. Aus diesem Grund analysiert das IGB regelmäßig durch Genomsequenzierung, ob neben dem bereits nachgewiesenen Typ B weitere Genotypen in der Oder vorkommen, und ob sich der Genotyp dort weiterentwickelt.
Regeneration des Oder-Ökosystems erfordert Umdenken
Da Prymnesium parvum auf einen erhöhten Salzgehalt angewiesen ist, empfehlen die Forschenden des IGB als dringende Vorsorgemaßnahme, die Einträge salzhaltiger Abwässer in das Flusssystem der Oder deutlich zu reduzieren. Auch weniger Einträge von Pflanzennährstoffen und Schadstoffen würden das Risiko einer erneuten Massenentwicklung der Brackwasseralge verringern. Wegen der bestehenden Gefahr einer Wiederholung der Umweltkatastrophe in der Oder ist es außerdem wichtig, die vorhandenen Rückzugs-, Laich- und Aufwuchsgebiete der natürlichen Fischfauna zu erhalten.
Um die Widerstandsfähigkeit des Flusses zu stärken, ist im Zuge der Klimakrise außerdem eine veränderte Bewirtschaftung empfehlenswert. Ein Umschwenken auf naturbasierte Lösungen bei Flussbau und Hochwasserschutz könnte zum Beispiel den Rückhalt von Wasser und Schadstoffen unterstützen und wasserabhängige Lebensräume sichern. Das wäre u.a. für die Wasser- und Landwirtschaft und somit für die Menschen vor Ort von zentraler Bedeutung. Davon profitieren könnten zudem die Fischerei und die nachhaltige touristische Entwicklung in der Region.